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Das Stimmchen

Fotomontage Kindermund spricht ins Ohr

Es fühlt sich so an, als sässe er auf meiner Schulter, im Ohr oder mitten im Kopf. «Er» ist eine Stimme – also eher eine Sie. Und kommentiert unablässig so ziemlich alles, was gerade passiert, was ich denke, fühle und tue – und was ich nicht denke, fühle und tue, aber sollte.


Ab und zu spricht sie penetrant laut, meistens jedoch fein, fast unmerklich. Mehr ein Stimmchen also, vielleicht doch eher ein Es. Wenn ich nicht ganz gut aufpasse, realisiere ich gar nicht, wie oft es leise im Hintergrund in Aktion ist und subtil auf mich einwirkt. Es beschämt mich, nimmt mir die Kraft und veranlasst mich, die Gegenwart zu verpassen.


Denn es kommentiert nicht nur, es bewertet, zweifelt, schubladisiert, ermahnt, verurteilt, verunsichert: Das war jetzt nicht angebracht. Ich hätte es wissen können. Ich hab's (wieder) nicht geschafft. Peinlich. Eigentlich sollte ich jetzt... Ich bin zu wenig achtsam, zu wenig klar, zu wenig liebevoll, zu wenig bewusst, zu langsam, zu schnell, zu ungeduldig, zu inkonsequent, zu gierig, zu viel, zu wenig. Einfach nicht okay.


Natürlich meint das Stimmchen nicht selten auch andere Menschen, das Wetter, die Welt oder das Schicksal. Doch das ist nochmal eine etwas andere Geschichte.


Das Hauptproblem, im Grunde das einzige Problem an dieser Sache, ist: Das Stimmchen tut so, als sei es Ich – und ich glaube es ihm. 


Das ist gar nicht so einfach zu durchschauen. Die Erkenntnis an sich ist schon mal ein ziemlich guter Anfang.  Es hilft, zu wissen, dass das Stimmchen ja bisweilen auch schweigt und verschwindet, ich dann aber immer noch da bin. Ergo kann ich nicht das Stimmchen sein.


Falls du zufällig auch ein Stimmchen dieser Art in dir kennst: Verurteile es nicht und versuche es nicht loswerden zu wollen, auch wenn diese Versuchung gross ist. Es wird nicht gelingen, weil das Stimmchen dich so von hinten erwischt. Verurteilung durch Verurteilung loszuwerden gelingt so wenig, wie Frieden durch Krieg errreichen zu wollen. Und nebenbei: Manchmal beinhalten seine Botschaften ein wertvolles Körnchen Wahrheit. 


Anerkenne also, dass es da ist, lächle und lass es plappern, während du dem vertraust, was du fühlst, und während du tust, was dein Herz tun will. 



Fotomontage: Thomas Wolter, Pixabay

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